von Rainer Beßling, Kunstkritiker und Kulturjournalist

erschienen am 01.12.2017

Katharina Albers. Bildnerische Organismen.

Katharina Albers holt den Betrachter in ihre Werke. Wir können nicht nur hineinsehen, wir gehen in den Bildraum. Die Malereien sprechen uns nicht allein visuell, sondern auch leiblich an. Angesichts dieser Waldbilder empfinden wir uns angekommen und doch nicht sicher, als Teil eines Ganzen, eines zugleich vertrauten und doch fremden, eines undurchdringlichen und letztlich unaufschließbaren Elements. Im Gegensatz zu einer Landschaft mit Horizontlinie und Geländestaffelung, wo er dem Motiv gegenübersteht, ist der Betrachter bei den Waldstücken von Katharina Albers von üppig wuchernder Natur umgeben. Es entsteht im doppelten Sinne eine innere Ansicht gleich einer inneren Lichtung: der Betrachter findet sich im Zentrum des Dickichts wieder, zugleich in einer Selbstreflexion, einer Empfindung reicher und tiefer Assoziationen, die er dem Wald anlagert. Der Sog in die Tiefe geht aber nicht nur von dem umschließenden Motiv, sondern auch von der formalen Anlage der Bilder aus. Wer sie unter diesem Aspekt anschaut, sieht, dass Tiefe kompositorisch aufgebaut ist. Eine Hintergrundfarbe wird als erste Ebene gesetzt, Flächen werden gestaffelt, die Zeichnung ist schließlich nach vorne hin verlaufend hinzugefügt. Daneben gibt es auch Bilder, die in entgegengesetzter Richtung gearbeitet sind und die konträre Wirkung erzielen. Dann ist die Zeichnung weit in den Vordergrund sozusagen auf die Kante des Motivs hin gearbeitet, so dass der Betrachter förmlich aus dem Bild heraus gedrängt wird. In Bildserien lösen sich diese beiden Effekte spannungsreich ab.

 

Bei den „organism“-Arbeiten funktioniert es ähnlich wie bei den Waldstücken. Hier kommt neben dem räumlichen noch ein zeitlicher Aspekt hinzu. Der Betrachter schwingt in ein Empfinden ein, als erlebe er das Treiben, das Atmen, die Expansionen und Konvulsionen eines Organismus mit. In den Waldbildern reicht das Motiv eng an den Rahmen heran, es stellt sich das Gefühl ein, als wolle es das Format sprengen. In den „organism“-Bilder ist mehr Weiß an den Rändern gelassen, um dem lebendig wirkenden Organismus für seine Ausdehnungen Raum zu geben. Die Künstlerin kalkuliert die Assoziationen ein, die der Betrachter mit dem Wald verbindet. Seit der Romantik besetzt dieser den Rang eines Sehnsuchtsortes, eines Topos der Rückbesinnung auf die Natur, auf Natur als unerschöpfliches Formangebot im Großen wie im Kleinen, geschichts- und symbolträchtig, Begleiter des Menschen in seiner Arbeit und in seinem Alltag, als Lieferant von Früchten und Wild,aber auch von Bildern, wenn das Sonnenlicht schräg zwischen den Bäumen einfällt und Atmosphäre eine stoffliche Gestalt anzunehmen scheint. Das Wort Material stammt vom Lateinischen Mater ab, dem Mutterstamm der Baumhistorie, von dem die Schößlinge abstammen.

Der Wald repräsentiert eine Gegenwelt zur industriellen Realität, Erholung, Entschleunigung und Besinnung scheinen dort möglich. Je nach Jahreszeit zeigt er sich frisch und hell oder düster und ungastlich. Dabei weist die Kulturgeschichte des Waldes eine facettenreiche Entwicklung auf. Noch bis in die Romantik hinein galt dieser als bedrohlicher, unheimlicher Ort. Erst als der Wald gerodet wurde, öffnete sich für den Menschen der Blick in die Sterne, auf den gestirnten Himmel über uns um mit Kant zu sprechen und als Paralleluniversum auf das moralische Gesetz in uns. Schon die Römer fürchteten den für Germanien so typischen, schier uferlosen Wald, weil er den angestammten Barbaren Schutz und Chance für Attacken aus dem Hinterhalt bot. Dante verlegte den Eingang in das Inferno in den Wald. Dieser ist das Zuhause von Märchenfiguren und Geistern, von Ausgestoßenen und Verbrechern. Bäume sind aber auch Grenzmarken, gesellschaftliche, gesellige Mittelpunkte, Gerichtsstätten. Nicht zuletzt scheint der Wald neben den ästhetischen auch archaische Empfindungen des Menschen zu wecken, nicht zivilisatorisch domestizierte oder kulturell gewendete Urtriebe und -gefühle, eine Evokation, die ja auch der Nacht zugeschrieben ist. Auch wenn in Katharina Albers‘ Wäldern keine Menschen auftreten, sehen wir uns doch naturhaften Bühnen gegenüber, Schauplätzen, an denen im nächsten Moment etwas passieren könnte, die Geschichten von ungeheuerlichen wie alltäglichen Ereignissen und Protagonisten zu erzählen wissen.

 

In den „organism“-Reihen treten die kompositorische Anlage und das Motiv als prozesshaftes, tendenziell unabgeschlossenes Geschehen in einer parallelen Bewegung auf. So wie der semantische Gehalt, also ein lebendiger Organismus in stetem vitalem Wachstum und in permanenter Metamorphose in den Blick rückt, zeigt sich auch der Aufbau des Bildinhalts als Wachstum aus einer Zelle in immer komplexe Gebilde hinein. Es beginnt mit einer Farbe und ersten zeichnerischen Setzungen, dann treten in den folgenden Druckvorgängen weitere Farben, Flächen und lineare Gebilde hinzu. In der Präsentation als Reihe reicht das Fortsetzungsgeschehen über das Einzelwerk hinaus. Das bildnerische Ereignis wächst stetig an, die Form speist sich aus vorangegangenen Setzungen, ihre farb-formalen Entscheidungen trifft die Künstlerin nach bildnerischen Gesetzen, nach den Erfordernissen der Komposition. So sind die Bilder nicht als Darstellungen von Organismen zu verstehen, sondern als Parallelaktionen zu kreatürlichen Prozessen und Ausformungen. Wenn am Ende der bildnerische Akt zu einer in sich geschlossenen, aber weiterhin lebendig pulsierenden Komposition gelangt ist, ergeben sich Parallelen zur sichtbaren Wirklichkeit, weil verwandte schöpferische Handlungen am Werk waren. Dann können wir aus den künstlerischen Formulierungen auf äußere Formen in der uns umgebenden Natur schließen.

Dass uns Katharina Albers‘ Bilder so ansprechen, liegt daran, dass sie nicht abbilden, sondern einen bildnerischen Aufbau durchlaufen sind, der dem Werk immanent bleibt, der uns nicht nur ein Form-Ende zeigt sondern das Formende als vitalen Akt mit in den Blick rückt und an uns zur weiteren Ausformung und inhaltlichen Auffächerung weiterreicht. Ein Prozess abstrakten formalen Aufbaus führt also unter Einschluss unserer inhaltlichen Anreicherungen zu einer Wirklichkeit, die über das bloße äußere Erscheinungsbild hinausgeht. Das Werk behauptet seinen Eigenwert und seine Eigenständigkeit als Parallelereignis zur Naturform.

 

Zum spezifischen bildnerischen Prozess, wie Katharina Albers ihn pflegt, gehört nicht nur das abstrakte Aufbau nach rein kompositorischen Gesichtspunkten und Gesetzen, sondern auch die Eigendynamik des zur Verwendung gebrachten Malmaterials. Ich sage bewusst malerischen Materials, weil wir es hier trotz des Gebrauchs eines drucktechnischen Verfahrens letztlich mit Malerei zu tun haben. Überwiegen in den Wald-Bildern die konstruktiv-kompositorischen Anteile und damit Eingriffe der Künstlerin, übergibt sie bei den organism-Arbeiten rund 80 Prozent, wie sie sagt, dem Zufall. Sie überlässt bedeutende Anteil der Komposition dem Stein und der Tusche, in der sich die fetthaltigen Pigmente zusammenziehen, einem Prozess, in dem wasserlösliche und wasserabweisende Elemente kontrastreich zusammenspielen. Sie arbeitet dann mit entstandener Struktur und Farbigkeit weiter.

 

Es ist eine langsame Arbeit, ein gegen den Strom unserer Gegenwart gebürsteter zeitaufwendiger Prozess, in den sich die Künstlerin bewusst hineinbegibt. Es ist ein allmählich stufenweise anwachsender Verlauf, ein Kontrast zu sonstigen Druckvorgängen, die sich durch zeitsparende Ökonomie, rasche Produktion und Reproduktion auszeichnen. So wie die Motive des Waldes oder des Organismus ist auch das Verfahren selbst ein Gegenpol zur medial beschleunigten postindustriellen Wirklichkeit, in der wir leben. Scheint im Alltag die Losung zu gelten, Materialwiderstände möglichst zu brechen, arbeitet Katharina Albers bewusst damit. Sie lässt sich vom Stoff zur Gestalt lenken und leitet daraus die Formung mit ab. Sie sagt, dass sie das brauche um Motiv und Material zu durchdenken und durchzuarbeiten, dass sie längere Zeit benötige und bewusst benötigen will um zum Ergebnis zu kommen. Sie glaubt an den ästhetischen Lohn für diesen Aufwand. Zu Recht. Sie malt mit dem Stein. Ähnlich wie der Maler mit Pinsel immer wieder in die Leinwand und die Farbe geht, entwickelt sie in den Druckstufen das Bild, zeichnet ein, schleift zwischendurch ab und bringt in seltenen Fällen nach der letzten Druckfassung auch Pinsel oder Kreide in Anwendung.

Dass sie die Lithografie gewählt hat, hängt mit dem von ihr positiv aufgefassten Zeitaufwand zusammen. Dass sie drucktechnisch malerische Unikate fertigt, spricht für den Rang, den sie dem Verfahren zumisst. Katharina Albers arbeitet mit der Lithografie, weil sie die Verwandtschaft ihrer Druckergebnisse mit den Aquarellausblühungen mag. Die Lithografie bietet ihr sowohl die Möglichkeit, malerisch einen Fond anzulegen, Farbflächen zu einer binnenbewegten, schwingenden Haut aufzubauen wie auch reich konturierend und dabei klarrandig zu zeichnen, das heißt farbräumlich eingebettete Gestalten und Gebilde figurativ zu umreißen. Eine Lithografie kann hart wirken, aber auch weich ausfallen, und natürlich kann sie die beiden bildnerische Qualitäten als Pole von Existenz in den Blick rücken und ihr dialektisches Daseinsspiel treiben lassen.

 

Wie das Motiv Wald einen Gegen-Ort zum gegenwärtigen zivilisatorischen Alltag markiert, ist auch ein malerisches Lithografen-Atelier wie das von Katharina Albers eine Kontraststätte. Die Künstlerin fällt aus der Zeit, weil sie sich Zeit nimmt für ihre Arbeit. Sie fällt auch heraus, weil sie nicht auf Inszenierung und Diskurs setzt, auf die Verselbstständigung von Kuratoren- und Kritiker-Prosa in multimedialem Auftritt, sondern auf bildnerische Behauptungen, auf Komposition, auf eine Herausforderung und damit zugleich Ausbildung der Wahrnehmung, auf eine Kultur des Sehens, die es ermöglicht, in das Binnenleben des Sichtbaren vorzudringen und damit Verständnis für das Wesen und das Werden der Erscheinungen zu ebnen.

Ihre organisch-bildnerisch gewordenen Organismen treten als geschlossene Systeme auf, die sich uns offenbaren, sich uns aber nicht ausliefern. Sie wollen von einem schonenden Auge erfasst und nicht visuell kolonialisiert werden. Sie zeigen sich nicht als Zweckverbände unter Wachstumsdiktat, sondern bieten unserem interesselosen Wohlgefallen Schönheit dar. Die Künstlerin führt uns durch visuelle Poesie zum Kern der Dinge ohne die Ästhetik durch dürre Kommentarkunst zu ersetzen, ohne die Geheimnisse der Natur gänzlich lüften und profan abbuchen zu wollen. Goethe hat für unser Verhältnis zur Natur unübertroffene Worte gefunden:

„,Natur‘! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu und doch immer wieder das alte. Wir leben mitten in ihr und sind ihr Fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.“

Rainer Beßling, Kunstkritiker und Kulturjournalist.

Katharina Albers, Bildnerische Organismen, Kunstverein Die Wassermühle Lohne e.V.

Ausstellungsansicht „Kunstverein Die Wassermühle Lohne e.V.“ (Skulpturen von Gunther Gerlach).

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